Frauen an den Start

  19.02.2024
Die Anfänge des Frauenturnens in Ravensburg -Ein Artikel von Ulrich Feßler von der Gruppe Vereinsgeschichte-

„Frisch und fromm den Strumpf gestrickt, fröhlich dann die Hos‘ geflickt, 
das ist Euch, ich sag es frei, die allerbeste Turnerei!“
(Unbekannter Autor im „Tuttlinger Gränzbote“ 1899, aus: Zitatensammlung des Deutschen-Turner-Bundes)

Die turnerische Betätigung von Frauen blieb in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen ein halbes Jahrhundert hinter der männlichen Turnbewegung zurück. Weder der philanthropische Begründer der systematischen Gymnastik und Bewegungserziehung in der Schule, Johann Christoph Friedrich Gutsmuts (1759-1839), noch sein turnerzieherischer Nachfolger Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), berücksichtigten in ihren Theorien und Praktiken des Turnens in nennenswerter Weise Mädchen und Frauen. So werden in dem 1816 von Jahn veröffentlichten, knapp 300-seitigen Standardwerk „Deutsche Turnkunst“, Mädchen und Frauen nicht ein einziges Mal erwähnt.

Im gesamten ersten Drittel des 19. Jahrhunderts blieb das weibliche Geschlecht vom Turnen ausgeschlossen. Dies änderte sich erst langsam in der Mitte des Jahrhunderts, als auf der Grundlage der Bemühungen des Wegbereiters des Mädchenturnens Moritz Kloos (1818-1881), in Deutschland erstmalig Mädchen im Rahmen des Schulunterrichts turnten (Schulturnen). Einige wenige Schulen in Deutschland führten in der Folge Turnunterricht für Schülerinnen ein. Ein obligatorischer Turnunterricht für alle Mädchen in Deutschland gab es dann aber erst 50 Jahre später, um die Wende ins 20. Jahrhundert.

Ebenfalls in der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen in Deutschland Mädchen und Frauen vereinzelt in Turnvereinen zu turnen (Vereinsturnen). 1848 wurde in Frankfurt am Main der erste Frauenturnverein in Deutschland gegründet, der aber nur wenige Jahre Bestand hatte. In der 1847 gegründeten Turngemeinde im provinziellen Ravensburg war zu diesem Zeitpunkt eine Aufnahme von Frauen allerdings so abwegig, dass daran noch nicht einmal gedacht wurde. Wie in praktisch allen Turngemeinden und -vereinen in Deutschland war Turnen damals reine Männersache.

Erst dreißig Jahre später interessierten sich Frauen in zahlenmäßig nennenswertem Umfang für das Turnen. Sie organisierten sich dabei entweder in speziellen Frauenriegen bzw. -abteilungen innerhalb bestehender Männerturnvereine oder gründeten eigene, unabhängige Turn- und Sportvereine, wenn der Widerstand bei den männlichen Turnern für ein Miteinander zu groß war. Viele männlicher Turner standen einer weiblichen Konkurrenz damals nämlich entschieden ablehnend gegenüber.

Aus einem seinerzeit vorherrschenden allgemeinen gesellschaftlichen Konsens über die körperlichen und mentalen Geschlechtsunterschiede von Mann und Frau, wurden mannigfaltige moralische, medizinische und ästhetische Bedenken und Widerstände gegen das Turnen von Mädchen und Frauen geäußert. Deshalb turnten weibliche Turnerinnen damals nach einer speziellen „Turnordnung“, die von den turnenden Mädchen und Damen eine „züchtige“ Kleiderordnung verlangte.  
Das folgende Bild zeigt Turnerinnen und Turner des Turnvereins Ravensburg 1847 vor der Kuppelnauturnhalle. Die Turnerinnen die ab dem Jahr 1919 aktiv im Turnverein Ravensburg  turnten, tragen auf dem Bild noch die traditionelle Turnkleidung, die seit Beginn des Mädchen- und Frauenturnens in Deutschland für weibliche Turnerinnen als angemessen galt: Matrosenblusen und Pumphosen.

 

Abb. 1:
Turnerinnen und Turner des Turnverein
Ravensburg 1847 vor der Kuppelnauturnhalle 1919

(StARV H 03 Bü28)

 Sechs Jahre später zeigten sich die Mädchen und Frauen des Turnverein Ravensburg bereits in sehr viel modernerer Turnkleidung. Offensichtlich hat der freiere Geist der zwanziger Jahre auch in Ravensburg Wirkung gezeigt.

 

Abb. 2:
Die teilnehmenden Turnerinnen des Turnverein Ravensburg 1847 am Schwäbischen Landesturnfest in Ulm 1925. 
Ganz rechts: Liesel Stadler
(StARV, H 03 Bü 28)

Aber nicht nur in der Kleidung zeigte sich die geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Einstellungen und (Vor-) Urteile. Für Mädchen und Frauen blieben bei der damaligen Turnordnung auch bestimmte Turnelemente ausgeschlossen. So waren turnerische Übungen, die in höherem Maße Mut, Kraft und Ausdauer erforderten als unweiblich nicht erlaubt. Aus moralischer Sicht war es den Turnerinnen zudem untersagt die Beine zu spreizen oder über den Körperschwerpunkt anzuheben. Es galt die Devise: „Kopf hoch, Beine unten und geschlossen“. Für turnende Mädchen und Frauen empfohlen wurden „Freiübungen“ (turnerische Übungen ohne Gerät) und „Ordnungsübungen“ (turnerische Übungen gemeinsam in Gruppen) bzw. Turnreigen. Trotzdem wurde den Turnerinnen in der Öffentlichkeit vielfach „Unmoral“, „Unweiblichkeit“ und eine „Gefährdung der Gebärfähigkeit“ vorgeworfen.


Abb. 3: Turnerinnen des Turnvereins Ravensburg 1847 im Veitsburghof bei Frei- und
Ordnungsübungen 1925

(StARV, H 03  Bü 28)

Zwischen dem Ende des 19. Jh. und den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es in Deutschland dann zu einem tiefgreifenden politischen, ökonomischen und sozialen Wandel zugunsten der Frauen. 1919 wurde in Deutschland für Frauen das Wahl- und Stimmrecht eingeführt. Obwohl Frauen weiterhin auf dem Arbeitsmarkt nur marginale Beschäftigungsmöglichkeiten zugestanden wurden und sie auch gesellschaftlich gegenüber den Männern „das zweite Geschlecht“ blieben, änderte sich das Alltagsleben für Frauen in dieser Zeit in vieler Hinsicht. Es veränderten sich sukzessive althergebrachte Rollenklischees und Weiblichkeitsideale. Die Mode befreite die Frauen von vielen Beschränkungen (Rocklänge, Korsett etc.). Zudem wurde ein neues Frauenideal modern: die sportlich-schlanke Frau mit kurzem Haar und gebräuntem Körper. Auch der gesundheitliche Nutzen der turnerischen und sportlichen Bewegung für Mädchen und Frauen wurde nun erkannt und propagiert. Die Zahl der in Vereinen turnenden Frauen betrug 1897 in Deutschland bereits 16.000 aktive Turnerinnen bei insgesamt 6,4 Millionen Mitgliedern in der deutschen Turnerschaft. 1898 nahmen auf dem Deutschen Turnfest in Hamburg mehr als 1000 Turnerinnen mit Freiübungen und Riegenturnen teil.

In Ravensburg dauerte es bis zur vereinsturnerischen Emanzipation der Frauen allerdings noch weitere knapp zwei Jahrzehnte. Am 9. Juli 1919 wurde im Turnverein  1847 Ravensburg eine Frauenturnriege gegründet. An der ersten Frauenturnstunde des Turnvereins am 24. Juli 1919 nahmen bereits 37 Frauen und Mädchen teil. Am 17. Juli 1919 erfolgte die Gründung einer Frauenabteilung im Turnerbund Ravensburg 1909, der sofort 25 Turnerinnen beitraten. Vorangegangen waren Anzeigen bzw. Aufrufe zur Bildung von Frauenturngruppen in der örtlichen Presse.

Abb. 4: Aufruf im „Oberschwäbischen Anzeiger“
am 08.07.1919

Abb. 5: Aufruf im „Oberschwäbischen Anzeiger“
am 16.07.1919


In Württemberg nahmen 1922 beim Turnfest des Turnkreis XI (Schwaben) in Esslingen erstmals Frauen an einem Wettturnen teil. Mit dabei Turnerinnen der 1919 gegründeten Frauenriegen des Turnvereins Ravensburg und des Turnerbunds Ravensburg.

 

Abb. 6:

Die Turnerinnen des TV Ravensburg 1847 beim Kreisturnfest 1922 in Esslingen mit männlichen Vorturnern und Vereinsvertretern

(StARV, H03, Bü 28)

Zunächst turnten die Mädchen und Frauen im Turnverein und Turnerbund mit männlichen Vorturnern (Übungsleitern). Im Turnverein 1847 turnten die Mädchen und Frauen unter der turnerischen und „sittlichen“ Aufsicht des Frauenturnwarts Fritz Speth. Im Turnerbund übte diese Funktion Benedikt Graf aus. Grund dafür war, dass für die Frauenturnabteilungen der Ravensburger Turnvereine noch keine weiblichen Vorturnerinnen zur Verfügung standen und erst sukzessiv ausgebildet werden mussten.

Geturnt wurde bei schlechter Witterung in der Ravensburger Kuppelnauturnhalle, bei schönem Wetter auf den Außenanlagen vor der Turnhalle. Die Turnerinnen liefen häufig vom Start am ersten Baum beim Brunnen vor der Kuppelnauwirtschaft 75 Meter oder 100 Meter um die Wette, meist barfuß, die Strasse hinunter. Waschgelegenheiten gab es in der Kuppelnauturnhalle nicht. Die Turnerinnen wuschen sich nach der Turnstunde am Brunnen bei der Kuppelnauwirtschaft.


Abb. 7:
Der Kuppelnauplatz war seit 1847 Turnplatz der Ravensburger Turner. 1878 wurde dort die Kuppelnauhalle erbaut. Die Aussenanlagen waren noch in den 70er Jahren des 20. Jh. zu erkennen.

Stadtarchiv Ravensburg (StARV S01 l1bRV)

 

Im Juni 1920 begann im Turnverein Ravensburg das Schülerinnenturnen unter Leitung von Paula Kayser, die zugleich erste Leiterin der Frauenturnabteilung war.

Eine der ersten und erfolgreichsten Turnerin in der Frühzeit der Frauenturnabteilung im Turnverein Ravensburg und dann jahrzehntelange Übungsleiterin für das Frauen- und Kinderturnen war Liesel Stadler.

Abb. 8:
Liesel Stadler, Mitglied der ersten Stunde der Frauenturngruppe des TV Ravensburg und langjährige aktive Turnerin, Übungsleiterin und Vereinfunktionärin (1903-1971)

TSB-Archiv im Stadtarchiv Ravensburg (StARV, H03, Bü 28)

Liesel Stadler war von ihrem Eintritt in den Turnverein Ravensburg im Jahr 1919 bis zu ihrem Tod 1971 eine herausragende Persönlichkeit der Ravensburger Turnbewegung. Sie stellte über viele Jahrzehnte ihr hohes Engagement für das Frauenturnen dem Turnverein in vielfältigen Funktionen zur Verfügung. Sie bekleidete die Ämter als Schülerinnenturnwartin, Jugendturnwartin und Frauenturnwartin. Mit ihrer Funktion als Frauenturnwartin gehörte sie 46 Jahre ununterbrochen dem Vereinsrat des Turnverein bzw. Turn- und Sportverein Ravensburg 1847 an. Neben ihrer Tätigkeit im Verein war Liesel Stadler von 1939 bis 1968 Frauenturnwartin des Turngau Oberschwaben. Daneben war sie von 1948 bis 1963 Frauenwartin im Sportkreis Ravensburg.  Für ihr langjähriges und hochmotiviertes Wirken für das Frauenturnen und den Turnverein 1847 wurde Liesel zum Ehrenmitglied ernannt und mit der Goldene Ehrennadel des Schwäbischen Turnerbundes ausgezeichnet.

Liesel Stadler starb am 13. September 1971 mit 69 Jahren nach über fünfzigjähriger außerordentlich aktiver Mitgliedschaft im Turnverein bzw. Turn- und Sportverein 1847. Sie war als Person eine Brücke zwischen den allerersten Anfängen des Ravensburger Frauenturnens hin zum modernen Turnbetrieb im Turn- und Sportverein 1847 in seinem vielfältigen Spektrum.

Ähnlich bedeutsam wie Liesel Stadler für das Frauenturnen für den Turnverein bzw. Turn- und Sportverein 1847 war Luise Heine im Turnerbund. Auch sie war seit 1936 für lange Jahre Abteilungsleiterin der Frauenturnerinnen im Turnerbund. Allerdings ist in ihrem Fall, was fast durchgänging für den Turnerbund gilt, die Quellenlage sehr viel begrenzter als bei Liesel Stadler, weshalb an dieser Stelle lediglich eine knappe Erwähnung möglich ist.


Aus den 32 Frauen und Mädchen des Turnverein Ravensburg und den 25 Turnerinnen des Turnerbund Ravensburg im jeweiligen Gründungsjahres 1919 sind im Jahr 2024 1506 weibliche Mitglieder im Turn- und Sportbund Ravensburg geworden. Der Frauenanteil in der Turnabteilung des TSB beträgt aktuell 64% Prozent. Das Frauenturnen im Turn- und Sportbund kann in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte mit Fug und Recht als große Erfolgsgeschichte bezeichnet werden.

 

Literatur:
Ettig, W.: „Frisch und fromm den Zopf gestrickt, das ist Euch, ich sag es frei, die allerbeste Turnerei“; in: Jahrbuch Hochtaunuskreis 1919; Frankfurt (1919)

Michael Krüger: Von Klimmzügen, Aufschwüngen und Riesenwellen. 150 Jahre Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport in Württemberg. Tübingen 1998

Krüger, M.: Einführung in die Geschichte der Leibesübungen und Sport. Teil 2: Leibesübungen im 19. Jahrhundert, Schorndorf (20223)

Krüger, M.: Einführung in die Geschichte der Leibesübungen und Sport. Teil 3: Leibesübungen im 20. Jahrhundert, Schorndorf (20223)
Turn- und Sportverein 1847 (Hrsg.): Vereinsnachrichten 1966 bis 1971

Pfister, G.:Körper, Sport und Geschlecht aus historischer Sicht; in: Krüger, M. und Langenfeld, H. (Hrsg.): Handbuch Sportgeschichte, Schorndorf (2010)