Verstoßen - Verdrängt - Vergessen

  28.11.2024
TSB Ravensburg übernimmt Stolperstein-Patenschaft für Gustav Adler. Der Arbeitskreis TSB-Vereinsgeschichte ist bei seinen Recherchen auf einen früheren Turnkameraden gestoßen, der in den 20-er und frühen 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Turnverein Ravensburg eine bedeutsame Rolle gespielt hat, später aber in der vereinshistorischen Überlieferung völlig in Vergessenheit geraten ist.

Dies war der jüdische Kaufmann Gustav Adler. Er wurde nach langjähriger Mitgliedschaft im Frühjahr 1933 aus rassistischen Gründen aus dem Turnverein ausge-schlossen.

Vor dem ehemaligen Geschäfts- und Wohnhaus von Gustav Adler am Ravensburger Marienplatz 61 sind zur Erinnerung sog. „Stolpersteine“ für ihn, seine Frau Lotte, sowie die beiden Töchter Hannelore und Brigitte verlegt.

Im Sommer 2024 ergab sich die Gelegenheit für den TSB Ravensburg die Patenschaft für die Stolpersteine der Familie Adler zu übernehmen. Am 16.07.2024 entschied sich der TSB-Vorstand einstimmig für diese Patenschaft, die die Erinnerung an Gustav Adler fördern und den Zustand der Stolpersteine sichern soll.

Gustav Adler wurde am 30.04.1890 in Speyer geboren. Er war Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, in dem er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde. Er zog nach dem Krieg nach Ravensburg, wo er seine Frau Lotte kennenlernte und später heiratete. Die beiden hatten zwei Töchter: Hannelore und Brigitte. Gustav Adler war 1933 einer von 23 Menschen aus acht Familien mosaischen Glaubens in Ravensburg.

Gustav Adler war Inhaber des Kaufhauses „Wohlwert“, später „Staufia“ am Postplatz 17 (heute Marienplatz 61). Zum Zeitpunkt der „Reichspogromnacht“ am 09.11.1938 war das Kaufhaus „Staufia“ das letzte jüdische Kaufhaus in Ravensburg. In der Reichspogromnacht wurden die Schaufenster des Geschäftes eingeschlagen und Gustav Adler vom 10.11.1938 bis 13.11.1938 in „Schutzhaft“ genommen. Unter dem stetig wachsenden Druck verkaufte Gustav Adler sein Kaufhaus am 03.12.1938 an den Ravensburger Textilwarenhändler Wilhelm Dietz. Der gezahlte Kaufpreis lag weit unter dem eigentlichen Wert des Kaufhauses.

Gustav Adler und seine Familie verließen 1939 Ravensburg und reisten über Rotterdam und England in die USA aus. Gustav Adler kam in den 50-iger Jahren noch einmal nach Ravensburg zurück, um eine „Wiedergutmachungszahlung“ für die ma-teriellen Verluste für Haus und Geschäft zu beantragen. Allerdings mit geringem Erfolg. Von weiteren Besuchen Gustav Adlers in Ravensburg ist nichts bekannt. Gustav Adler verstarb am 25.11.1972 in New Orleans.

Gustav Adler war ein langjähriges und geachtetes Mitglied des Turnvereins Ravensburg. Er war Vorstandsmitglied u.a. in der Funktion des Schwimmwarts, (heute würde man sagen Abteilungsleiter der Schwimmabteilung) und großzügiger Unterstützer des Turnvereins. Außerdem war Gustav Adler aktives Mitglied bei der „Deutschen Lebensrettungsgesellschaft“ (DLRG) Ravensburg. Er rettete nach den vorliegenden Quellen mindestens zwei junge Menschen im Flappach vor dem Ertrinken.

Am 20.11.1932 trug Gustav Adler als prominentes Mitglied bei den Feierlichkeiten zum Volkstrauertag die Fahne des Turnvereins Ravensburg. Bei der wenige Tage später stattfindenden Sitzung des Großen Ausschusses des Turnvereins Ravensburg (entspricht dem heutigen Vereinsrat) am 02.12.1932 kritisierte der Leiter der Spiel- und Sportabteilung Dr. med. Franz Mattes, dass Gustav Adler „als Jude“ die Vereinsfahne getragen habe. Dabei gebrauchte Dr. Mattes nach der Niederschrift des Protokollanten Weiss (Protokollbuch Turnverein StARV_H_03_Bü4) „… hier nicht wiederzugebende Ausdrücke“. Im Großen Vereinsausschuss erfolgt daraufhin, nach den Aufzeichnungen von Schriftführer Weiss, eine heftige Auseinandersetzung, die er in seiner 11-jährigen Zugehörigkeit zum Ausschuss noch nie zu hören bekommen hat. Dr. Mattes erhielt vom Vorstand eine Rüge. Allerdings blieb die Stimmung im Ausschuss „aller sehr erhitzt … Eine Einigung konnte für diesen Abend nicht gelingen“ (Weiss). Gustav Adler legte aus Protest am Ende der Sitzung sein Amt des Schwimmwarts nieder und trat aus dem Großen Ausschuss aus.

Heiner König, der Sohn des Wirts der Gaststätte „Humpis“ (Vereinslokal des Turnvereins), berichtete später in einem Interview, dass nach der Machtergreifung der Nazis das bislang angesehene und beliebte Vorstandsmitglied Gustav Adler von seinen Turnkameraden zunehmend ausgegrenzt und geschnitten wurde. Im Frühjahr 1933 erfolgte nach der (Selbst-) Gleichschaltung des Turnvereins dann der Ausschluss von Gustav Adler aus dem Verein.

In Turnverein (bis 1945), Turn- und Sportverein (1949 bis 1973) und Turn- und Sport-bund (TSB) fand das vor 1933 hochgeachtete Vereinsmitglied Gustav Adler in den Vereinsannalen keine wie auch immer geartete Erwähnung mehr.

Mit der Patenschaft der Stolpersteine von Gustav Adler und seiner Familie will sich der TSB Ravensburg nunmehr seiner historischen Verantwortung stellen und nach Aussage des ersten Vorsitzenden Thomas Prüß bei der Mitgliederversammlung am 25.12.2024 sich auch an negative Ereignisse der Vereinsgeschichte erinnern.

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